Wenn Eltern nicht erwachsen werden - und Kinder zu Erwachsenen werden müssen: Ein psychotherapeutischer Blick
In unserer Gesellschaft gibt es ein wenig beachtetes Phänomen, das tiefgreifende Auswirkungen auf Familienstrukturen und die psychische Gesundheit hat: Eltern, die nicht in der Lage sind, ihre Erwachsenenrolle zu übernehmen, und Kinder, die gezwungen werden, Verantwortung zu tragen, die weit über ihr Alter hinausgeht. Dieser Zustand wird in der Psychotherapie als Parentifizierung bezeichnet - ein Prozess, bei dem die familiären Rollen vertauscht werden.
Was ist Parentifizierung?
Parentifizierung beschreibt eine Dynamik, bei der Kinder Aufgaben und Verantwortungen übernehmen, die eigentlich den Erwachsenen zukommen.
Dabei unterscheidet man zwei Formen:
Instrumentelle Parentifizierung:
Das Kind übernimmt praktische Aufgaben wie die Versorgung von Geschwistern, Haushaltsführung oder das Organisieren des Alltags.
Emotionale Parentifizierung:
Das Kind wird zum emotionalen Stützpunkt der Eltern und trägt deren Sorgen, Konflikte oder Ängste. In extremen Fällen nimmt es eine Rolle ein, die eher einem Therapeuten gleicht.
Warum können Erwachsene ihre Verantwortung nicht übernehmen?
Es gibt viele Gründe, warum Erwachsene ihre Rolle nicht vollständig ausfüllen.
Häufige Ursachen sind:
Unverarbeitete Kindheitstraumata: Wer selbst als Kind emotional vernachlässigt oder missbraucht wurde, hat oft Schwierigkeiten, später als Elternteil Verantwortung zu übernehmen.
Psychische Erkrankungen: Depressionen, Angststörungen oder andere psychische Belastungen können dazu führen, dass Erwachsene sich ihrer Rolle nicht gewachsen fühlen.
Sozioökonomische Belastungen: Finanzielle Not, Arbeitslosigkeit oder andere Stressfaktoren erschweren es, als Elternteil stabil und verfügbar zu sein.
Fehlende Vorbilder: Erwachsene, die selbst nie gelernt haben, was es bedeutet, in einer gesunden Eltern-Kind-Beziehung aufzuwachsen, können ihre Rolle schwer erlernen.
Auswirkungen auf die Kinder
Die Folgen von Parentifizierung sind tiefgreifend und können sich auf viele Lebensbereiche der betroffenen Kinder auswirken:
Emotionale Überforderung: Kinder, die eine Erwachsenenrolle übernehmen müssen, fühlen sich oft isoliert und allein.
Verlust der Kindheit: Durch die übernommene Verantwortung bleibt wenig Raum für kindliche Entwicklung und Unbeschwertheit.
Langfristige psychische Belastungen: Parentifizierte Kinder sind im Erwachsenenalter häufig anfälliger für Depressionen, Burnout und Beziehungsprobleme.
Gefühl von Wertlosigkeit: Kinder, die nur aufgrund ihrer Funktion geschätzt werden, entwickeln oft ein geringes Selbstwertgefühl.
Was können wir als Gesellschaft tun?
Bewusstsein schaffen: Parentifizierung ist ein wenig bekanntes Thema. Öffentliche Diskussionen und Bildungsinitiativen können helfen, das Bewusstsein für dieses Problem zu schärfen.
Unterstützungsangebote ausbauen: Familien brauchen zugängliche Angebote wie Erziehungsberatung, finanzielle Hilfen und psychologische Unterstützung.
Sensibilisierung von Institutionen: Schulen und soziale Einrichtungen können geschult werden, um Anzeichen von Parentifizierung frühzeitig zu erkennen und betroffene Kinder zu unterstützen.
Stärkung von Resilienz: Programme, die Kindern helfen, ihre eigene Resilienz zu entwickeln und ihre Bedürfnisse zu erkennen, sind essenziell.
Parentifizierung ist eine unsichtbare Last, die das Leben vieler Kinder und Familien prägt. Als Gesellschaft müssen wir Verantwortung übernehmen, um betroffenen Kindern ihre Kindheit zurückzugeben und Erwachsene zu unterstützen, ihre Rolle vollständig zu übernehmen. Mit Bewusstsein, psychologischer Unterstützung und einem starken sozialen Netz können wir dazu beitragen, dass Kinder wieder Kinder sein dürfen.